Offener Brief des IVDA an die Stadtverordneten und den Magistrat zum Satzungbeschluss des Bebauungsplans Nordostumgehung
An
die Darmstädter Stadtverordneten
den Darmstädter Magistrat
Zur Kenntnis
dem Planungsbeirat Nordostumgehung
– per eMail –
Sehr geehrte Damen und Herren Stadtverordnete,
sehr geehrte Damen und Herren des Magistrats,
mit großer Sorge hat der Verein für Innovative Verkehrssysteme Darmstadt e.V. (IVDA) den Magistratsbeschluss am vergangenen Mittwoch sowie die Ankündigung einer abschließende Beschlussfassung durch die Stadtverordnetenversammlung in ihrer kommenden Sitzung am 30. September zur Schaffung von Baurecht für die sog. Nordostumgehung zur Kenntnis genommen. Unabhängig von der vollkommen ungeklärten Finanzierungsfrage können wir weder erkennen, dass die elementarsten Fragen über die Auswirkungen dieses Straßenbauprojektes für die Stadt und die eventuell nötigen flankierenden Maßnahmen (ggf. zu ihrer Vermeidung) geklärt sind, noch wurden auch nur ansatzweise gleich- oder höherwertige und insbesondere kostengünstigere Alternativen geprüft. Da der geplante Satzungsbeschluss die fundamentale Grundlage für eine ergebnisoffene Prüfung des Projektes, von Alternativen sowie der Diskussion auch im Planungsbeirat Nordostumgehung entzieht, fordern wir alle Gruppierungen in der Stadtverordnetenversammlung auf, den Satzungsbeschluss bis zur Klärung der offenen Fragen zurückzustellen. Sollte der Bebauungsplan dennoch beschlossen werden, werden wir unsere Mitarbeit im Beirat Nordostumgehung mit sofortiger Wirkung zu beenden, da somit dem Beirat jegliche Diskussionsgrundlage entzogen wäre.
Ergebnisoffener Austausch? Beschränkte Detaildiskussion!
Der Verein für innovative Verkehrssysteme Darmstadt e.V. verfolgt seit seiner Gründung im Jahr 2001 das Ziel einer nachhaltigen Mobilität – also einer Mobilität, welche die Komponenten Ökonomie, Ökologie und Soziales gleichberechtigt und gerecht integriert. Vor diesem Hintergrund haben wir die uns gebotene Möglichkeit am Beirat Nordostumgehung, als Gremium der Kommunikation und Diskussion über die Planungen für ein einschneidendes und prägendes lokales Verkehrsinfrastrukturprojekt, teilzunehmen gerne angenommen. Verknüpft war dies für uns jedoch zu jedem Zeitpunkt mit dem Anspruch und der Anforderung, nicht nur über „optionale Verbesserungen“ an einem im Übrigen feststehenden Bauprojekt zu sprechen, sondern generell Nutzen, Kosten und Wirkungen ebenso wie Alternativen im Verlauf der sich verändernden Planung immer wieder neu zu bewerten und abzuwägen. Leider mussten wir jedoch während unserer inzwischen vierjährigen Mitarbeit im Beirat wiederholt feststellen, dass für diese unsere Anforderung kein Raum im Beirat gegeben wurde. Dem immer wieder von verschiedenen Seiten geäußerten Wunsch über das Projekt in Gänze zu diskutieren wurde nicht nachgekommen und auch die dringend notwendige abschließende Gesamtschau und Bewertung vor dem Satzungsbeschluss hat nicht stattgefunden. Als wirklich unangenehm haben wir darüber hinaus den öffentlichen Umgang mit dem Beirat empfunden, indem wiederholt und dies teilweise sogar entgegen explizit anderslautender Aussagen in den Beiratssitzungen in der Öffentlichkeitsdarstellung Interpretationen als Meinungen des Beirates wiedergegeben oder der Beirat an sich als legitimierendes Element für das gesamte Bauprojekt herangezogen wurde.
Effekte? Bekannt aber ignoriert!
Unsere primäre Kritik richtet sich jedoch gegen die unzureichende Analyse der verkehrlichen Wirkungen der Nordostumgehung in der Stadt und der Abgleich, ob die mit dem Bau der Straße angestrebten Ziele tatsächlich erreicht werden. Denn selbst die der Nordostumgehung zugrunde liegenden Verkehrsprognosen weisen trotz der Vernachlässigung fundamentaler verkehrlicher Langzeiteffekt (sekundär induzierte Verkehre; Erläuterung siehe Anlage) nicht nur eine Zunahme des Verkehrs auf der Achse B26/B42 um über 60% aus, sondern zeigen gleichzeitig, dass die als wesentliche Begründung für das Projekt herangezogene Entlastung der Innenstadt vom Verkehr nicht erreicht wird. Vollkommen ignoriert wurden bisher auch die verkehrlichen Effekte auf andere Verkehrsträger, insbesondere den ÖPNV. Und schlussendlich hat eine Prüfung von Alternativen zur stadtverträglichen Abwicklung des Verkehrs weder im Rahmen des Verkehrsentwicklungsplanes noch im Rahmen der Planung für die Nordostumgehung stattgefunden.
Immerhin sind die hierbei als Basis herangezogenen Verkehrsprognosen für die Nordostumgehung nach unserem Eindruck inhaltlich deutlich besser und detaillierter als die des Bundesverkehrswegeplanes (siehe Anlage). So zeigt ein Vergleich des Analysefalls 2001 (Status quo 2001) mit dem Nullfall 2015 (Prognose 2015 ohne Nordostumgehung) eine nur marginale Veränderung der Verkehrsmengen (vgl. Habermehl+Fohlmann 2004), obwohl nach unserem Kenntnisstand die im Bundesverkehrswegeplan prognostizierte Zunahme des Lkw-Verkehrs (im Bundesdurchschnitt 58% von 1997 bis 2015, siehe Anlage) dort voll mit eingeflossen ist. Für den Planfall 2015 rechnen die Prognosen dagegen mit einem gravierenden Anstieg des Verkehrs im Vor- und Nachlauf der Nordostumgehung: Für die Hanauer Straße zwischen Landgraf-Georg-Straße und Heinrichstraße gehen die Prognosen von einer Steigerung um über 60% aus. Dabei sind der Rhön- und Spessartring die einzigen Straßen, die laut der Prognosen überhaupt in einem merkbaren Umfang von einer absoluten Senkung des Verkehrsaufkommens profitieren werden. Selbst für die Landgraf-Georg-Straße und den Cityring als originäre Bestandteile der Ost-West-Achse durch die Kernstadt werden nur minimale Veränderungen prognostiziert, die sich im Fehlerbereich der Prognose bewegen dürften.
Entlastungswirkung? Fehlanzeige!
In ihrer Tendenz sind die Prognosen dennoch aufschlussreich. Denn sie zeigen, dass die Nordostumgehung nicht nur erst die Basis für eine drastische Zunahme des Verkehrs auf der unmittelbaren Achse der B26/B42 herstellt, sondern die intendierte Entlastungswirkung an den meisten Stellen der Stadt – zumindest absolut - verfehlt wird. Hierbei kommt zum Tragen, dass die durch die Verlagerung eines Teils des Verkehrs geschaffenen Kapazitäten unmittelbar durch eine neu erzeugte Nachfrage (induzierter Verkehr; siehe Anlage) ausgeglichen wird.
Diese induzierte Nachfrage im Motorisierten Individualverkehr (MIV) wird gleichzeitig deutliche Auswirkungen auf den Fuß- und Radverkehrsanteil sowie den ÖPNV haben. Der derzeitige Modal Split, also der Anteil der einzelnen Verkehrsträger an den Wegen, basiert auf einer fragilen Abwägung der Verkehrsteilnehmer, wie aufwendig ein und derselbe Weg mit verschiedenen Verkehrsträgern zurückzulegen ist. Verbesserungen bei nur einem Verkehrsträger führen dann zu einer relativen Verschiebung der Attraktivität im Vergleich mit den anderen Verkehrsträgern – was wiederum zu einer verstärkten Nutzung des nun attraktiveren Verkehrsträgers zulasten der anderen Optionen führt. Aus eben diesem Grund werden jährlich auf allen Ebenen erhebliche Summen in den ÖPNV investiert, um ihn im Vergleich zum Pkw attraktiver zu machen. Dies ist jedoch kein Spiel, welches nur in eine Richtung funktioniert. Da der MIV durch die Nordostumgehung erheblich an Attraktivität zunehmen würde, wären bei Inbetriebnahme der Verbindung erhebliche zusätzliche Investitionen in den ÖPNV erforderlich, nur um Nachfrageinbußen beim ÖPNV zu vermeiden.
Eine Vermeidung dieses Effektes ist nur dann denkbar, wenn zeitgleich mit der Eröffnung der Nordostumgehung im restlichen Straßennetz eine flächendeckende Einschränkung der Kapazität für den MIV erfolgt. Dies ist zwar grundsätzlich immerhin ansatzweise vorgesehen, jedoch ist weder der derzeit vorgesehene Umfang ausreichend noch lassen die Ankündigungen und die finanziellen Rahmenbedingungen darauf schließen, dass dieses Erfordernis (wenn überhaupt) in dem dafür notwendigen Zeitfenster umgesetzt wird.
Weniger LKW? Deutlich überschätzt!
Als einziger „Vorteil“ der Nordostumgehung kann unter diesen Rahmenbedingungen die Veränderung der Verkehrszusammensetzung auf der Ost-West-Achse in der unmittelbaren Innenstadt stehen bleiben. Wir halten es für zutreffend und möglich, dass ein erheblicher Teil der heute die Innenstadt passierenden Lkw in Ost-West-Richtung auf die geplante neue Straße verlagert wird – wobei häufig vergessen wird, dass diese Verlagerung nicht das Ziel an sich sondern das Mittel zur Reduzierung der negativen Verkehrsfolgen wie Lärm und Schadstoffe ist. Nicht unterschlagen werden darf dabei jedoch im Besonderen, dass (1) diese Lkw dadurch nicht verschwunden sind, sondern stattdessen im Verlauf der Umfahrungsstraße entsprechende Probleme erzeugen werden, (2) die von den Fahrzeugen aufgrund der im Durchschnitt verlängerten Fahrtstrecke ausgehenden Gesamtemissionen steigen werden, (3) es durch induzierte oder großräumiger verlagerte (Schwer-)Verkehre zu einer weiteren deutlichen Steigerung der Emissionen kommen wird, (4) die Nordostumgehung nur für einen Teil des in der Stadt fahrenden Schwerverkehrs überhaupt eine Alternative darstellt und zudem (5) nicht nur ein erheblicher Anteil an Schwerverkehr als Ziel- und Quellverkehr im Betrachtungsraum verbleiben wird sondern (6) selbst bei Verhängung eines vollständigen Lkw-Fahrverbotes auch in Ermangelung entsprechender Kontrollen (siehe geltendes Lkw-Durch- und Nachtfahrverbot) auch weiterhin ein Durchgangsverkehrsanteil auf der relevanten Achse durch die Innenstadt und nicht über die Umfahrung fahren wird. Es ist daher unzweifelhaft, dass die Innenstadt auch nach dem Bau einer Nordostumgehung in relevantem Umfang vom Schwerverkehr genutzt wird - mit allen daraus folgenden Problemen, für die bis dato keine Lösungsvorschläge gemacht wurden.
Alternativen? Kostengünstig, wirkungsvoll und unbeachtet!
Wir halten es im Gegensatz dazu jedoch für möglich, allein mit alternativen Maßnahmen einen besseren Effekt als durch den Bau der Nordostumgehung zu erzielen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Geschwindigkeit des Verkehrs. So liegen beispielsweise bei ansonsten vergleichbaren Bedingungen die Schallemissionen von Straßenfahrzeugen bei 30km/h zwischen 4,5 und 6 dB(A) unter den Emissionen bei 50 km/h (vgl. RWTÜV 2005). Um den gleichen Effekt, der einer empfundenen Halbierung des Lärms bei den Betroffenen in etwa gleichkommt, durch die Reduktion des Verkehrsaufkommens zu erreichen, müsste die Zahl der Fahrzeuge am Querschnitt um rund 65% (4,5 dB(A)) bzw. sogar 75% (6dB(A)) reduziert werden.
In ähnlicher Weise verhält es sich mit den Schadstoffemissionen. Bei vergleichenden Untersuchungen konnte das Bayrische Landesamt für Umweltschutz nachweisen, dass bei ansonsten gleichen Bedingungen die Emissionen fast aller Schadstoffe bei 30km/h deutlich niedriger als bei 50km/h liegen – was wesentlich auf den niedrigeren Kraftstoffverbrauch zurückzuführen sein dürfte. So wurde beispielsweise im Partikelbereich eine Reduktion bei Pkw zwischen 45 und 55% und bei Lkw sogar bis zu 70% festgestellt. Auch die NOX-Emissionen konnten beim Lkw um gut 30% gesenkt werden (vgl. BSTMUGV 2003).
EXKURS: Stickstoffoxide (NOx) (siehe Dateianlage)
Umsetzung? Machbar!
Während die Beschränkung der Geschwindigkeit im klassifizierten Straßennetz (Hauptstraßennetz) auf 30km/h noch vor wenigen Jahren an der Straßengesetzgebung gescheitert ist (ebenso wie das Lkw-Durchfahrtverbot), stehen heute mit der Immissionsschutzgesetzgebung Instrumente zur Durchsetzung dieser Maßnahmen zur Verfügung. Städte wie Berlin und Duisburg haben davon bereits erfolgreich Gebrauch gemacht und auch das Lkw-Fahrverbot in Darmstadt wäre ohne die Immissionsschutzgesetzgebung nicht möglich gewesen. Aufgrund der nachweislich positiven Effekte der Geschwindigkeitsreduktion und des zunehmenden Umfangs an Richtlinien zum Schutz der Bevölkerung sind wir heute sicher, dass die Voraussetzungen für diese Maßnahme vorhanden sind.
Weitere Optionen? Ein lohnender Blick über die Kirchturmspitze hinaus!
Überschlägig gehen wir auch anhand der oben aufgeführten Beispiele davon aus, dass die erwünschten (und eventuell zumindest punktuell zu erwartenden) Effekte der Nordostumgehung allein durch eine Geschwindigkeitsreduktion auf 30km/h auf der Ost-West-Achse sowie dem Röhn- und Spessartring bereits im gleichen Umfang erreicht werden können. Neben den entfallenden Investitionskosten, unterbleibenden Eingriffen in das Stadtbild und der Vermeidung negative Folgewirkungen durch induzierte Verkehre hätte dies darüber hinaus den Vorteil, dass diese Veränderung nicht auf einen Teil der Stadt beschränkt bleiben muss, sondern grundsätzlich im gesamten Stadtgebiet wirksam werden kann. Entsprechend höher wäre dann ihre Wirksamkeit.
Dennoch halten wir die Flankierung der Geschwindigkeitsreduktion durch weitere Maßnahmen für erforderlich. Einige besonders wichtige Maßnahmen wollen wir dabei im Folgenden beispielhaft angeben und dabei darauf hinweisen, dass es sich dabei um keine neuen Ideen sondern ausschließlich um best-practice-Beispiele aus anderen Städten handelt, die ihre Tauglichkeit längst bewiesen haben:
- Die Sanierung des maroden Straßennetzes in Verbindung mit einer Flächenneuverteilung kann nicht nur erheblich zu einer weiteren Reduzierung des Verkehrslärms beitragen sondern auch die Attraktivität der Nahmobilität und die Aufenthaltsqualität in der Stadt deutlich steigern (z. B. Shared Space, etc.).
- Zur Erhöhung der Attraktivität sind Angebotsverbesserungen beim ÖPNV insbesondere in den Tagesrandlagen dringend erforderlich, um ein dem privaten Kfz gleichwertiges Verkehrsangebot zu bieten.
- Der Aufbau bzw. die Erweiterung von attraktiven Carsharing- und Mietfahrradangeboten bilden nachweislich eine sinnvolle Alternative und Ergänzung zum privaten Kfz und zum ÖPNV. Davon sollten besonders auch die Städte und Gemeinden im Landkreis Gebrauch machen.
- Die gezielte und planvolle (!) Ansiedlung und Verknüpfung räumlicher Funktionen wie Wohnen, Arbeiten, Einkauf, Freizeit sowie die Umsetzung einer gemeinsamen Citylogistik sowie koordinierte Stadtteilieferservices, etc. schaffen die Voraussetzung für die Vermeidung von Verkehren.
- Die Internalisierung externer Kosten z. B. durch eine regionale fahrleistungsabhängige Abgabe für alle Kraftfahrzeuge ebenso wie die nachfragegerechte Bepreisung z. B. von Parkraum ist eine zwingende Voraussetzung für Verbesserung der Effizienz und Nachhaltigkeit des Verkehrs.
- Zielgruppengerechte Mobilitätsmanagementkonzepte setzen erfolgreich am Entstehungspunkt des Verkehrs an und schaffen durch den Abbau von Nutzungshemmnissen und gezielte Beratungsangebote zum Vorteil aller Beteiligten eine effizientere und nutzerfreundlichere Mobilität.
Satzungsbeschluss? Nicht auf dieser Grundlage!
Ebenso wie die Geschwindigkeitsreduktion wurde bisher jedoch keine dieser Maßnahmen von der Stadt Darmstadt als Alternative zur Nordostumgehung ernsthaft in Erwägung gezogen oder etwa einer vertiefenden und quantifizierenden Betrachtung unterzogen. Ein Satzungsbeschluss über den Bebauungsplan für die Nordostumgehung würde daher auf einer vollständig mangelhaften Wissensgrundlage beruhen. Wir wiederholen daher an dieser Stelle unsere Forderung an alle Parteien und Gruppierungen in der Darmstädter Stadtverordnetenversammlung, den Satzungsbeschluss zum Bebauungsplan der Nordostumgehung auszusetzen, bis der Nachweis erbracht ist, dass die intendierten Ziele entweder ausschließlich oder (unter Einbeziehung aller negativen Begleiterscheinungen) tatsächlich am volkswirtschaftlich kostengünstigsten durch den Bau der Nordostumgehung erreicht werden können.
Als vertiefende Information und Erläuterung zu unseren vorangestellten Ausführungen haben wir Ihnen anhängend noch einige Informationen insbesondere zur Einordnung der Nordostumgehung im Kontext der Bundesverkehrswegeplanung, zu den Wechselwirkungen zwischen Verkehr und Wirtschaft, über die Abgrenzung zwischen Verkehr und Mobilität und zu den Hintergründen und der Abschätzungen des induzierten Verkehrs zusammengestellt. Weitere Informationen schicken wir auf Nachfrage gerne zu bzw. verweisen auf das Quellenverzeichnis in der Anlage. Gern stehen wir auch für ein persönliches Gespräch zur Verfügung. Sie erreichen uns per eMail unter info@ivda.de oder unter der Nummer 0178.8665462 (Felix Weidner).
Einstweilen verbleiben wir mit freundlichen Grüßen,
Anlage: Nordostumgehung im Kontext
Um unsere im Anschreiben formuliert Kritik nachzuvollziehen, ist es hilfreich, auch den übergeordneten Kontext zu kennen und über einige vertiefende Kenntnisse im verkehrswissenschaftlichen Bereich zur verfügen. Wir haben uns bemüht, Ihnen hierzu im Folgenden einen knappen Überblick zusammenzustellen.
Grundlage des Bundesfernstraßenbaus: Der Bundesverkehrswegeplan
Da es sich bei der Nordostumgehung zumindest nach derzeitiger Rechtlage um den Teil einer Bundesfernstraße handelt, ist die übergeordnete Betrachtungsebene für das Projekt durch den Bundesverkehrswegplan (BVWP) aus dem Jahr 2003 gegeben. Dieser wurde „auf Grundlage“ einer Verkehrsprognose aus dem Jahr 2001 für das 2015 erstellt. In dieser Verkehrsprognose wird auf Basis unterschiedlicher struktureller und politischer Entwicklungsszenarien eine „Bandbreite“ der Verkehrsnachfrage abgeschätzt. Kern der Szenarien ist dabei die Entwicklung der Nutzerkosten für Verkehr, da selbst die im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums erstellte Prognose „Verkehrsmittelnutzerkosten bzw. die preispolitischen Instrumente zu ihrer Beeinflussung […] zu den wichtigsten Handlungsparametern der Verkehrspolitik“ (BMVBW 2001, Seite II) zählt (vgl. dazu u.a. das Abschlussergebnis der Expertentagung „Traffic and Transport 2030“ im darmstadtium im März 2008). Zwar wurde dem Bundesverkehrswegeplan in der weiteren Bearbeitung immerhin das sog. Integrationsszenario zugrunde gelegt, welches zumindest die Einführung der Lkw-Maut auf den Bundesautobahnen berücksichtigt. Ein noch weiterreichendes Szenario mit einer stärkeren Kostenanlastung (siehe externe Kosten weiter unten) wurde jedoch bereits im Vorfeld ausgeschieden, obwohl „eine nennenswerte Verlagerung vom Individualverkehr und damit einen Anteilszuwachs des Schienen- und öffentlichen Straßenverkehrs“ (BMVBW 2001, Seite III) erst in diesem Szenario zu erwarten war.
Annahmen und Prognosen des Bundesverkehrswegeplans
Das Integrationsszenario geht dagegen davon aus, dass sich die Nutzerkosten z. B. beim LKW bis 2015 um 4% im Vergleich zu 1997 verringern werden. Für die in diesem Kontext wesentlichen Kraftstoffpreis wird für das Jahr 2015 ein Preis von 1,23 Euro/l für PKW (inkl. MwSt.) und 0,87 Euro/l für LKW (exkl. MwSt.) prognostiziert. Auf Basis dieser – bereits bei Beschluss des Bundesverkehrswegplans fraglichen und aus heutiger Sicht absurden Annahmen wird in der Verkehrsprognose für den BVWP die Entwicklung der Verkehrsleistung (Mrd. Personen. bzw. Tonnenkilometer) für das Jahr 2015 abgeschätzt – unter Zugrundelegung des Bestandsnetzes sowie der bereits beschlossenen Ausbaumaßnahmen und der Annahme, dass die prognostizierte Verkehrsmenge auf diesem Netz abgewickelt werden kann(!). Auf dieser Grobschätzung wiederum, die unter anderem eine Zunahme der Verkehrsnachfrage im Straßengüterfernverkehr um 58% zwischen 1997 bis 2015 prognostiziert, definiert der Bundesverkehrswegplan den Ausbaubedarf.
Bedeutung der Infrastruktur für die Mobilität
Diese Prognosen sind nicht nur vor dem Hintergrund der oben bereits aufgeführten Nutzerkosten mehr als zweifelhaft. Besonders kritisch zu hinterfragen ist die Annahme in der Prognose, dass einer Verkehrsnachfrage grundsätzlich auch ein Angebot gegenübersteht. Diese Annahme geht letztlich implizit davon aus, dass mehr Verkehr auch einen Mehrwert für die Bevölkerung, zumindest aber für die Volkswirtschaft hat und daher alles zur Verwirklichung dieses Verkehrswachstums zu tun sei. Tatsächlich unterschlägt das Bundesverkehrsministerium dabei, dass Verkehr nicht gleich Mobilität ist und somit durch mehr Verkehr auch nicht per se mehr Mobilität erreicht wird. Im Gegenteil geht das Bundesverkehrsministerium inzwischen selbst davon aus, dass zumindest für Teile der Bevölkerung trotz mehr Verkehrswegen die Mobilitätschancen eher abgenommen haben (vgl. BMVBS 2005).
EXKURS: Mobilität / Verkehr (siehe Dateianlage)
Wechselwirkungen von Verkehr und Wirtschaft
Unstrittig ist dabei, dass eine leistungsfähige Infrastruktur wesentlicher Erfolgsfaktor einer Volkswirtschaft ist. Ein Ausbau der Infrastruktur erfolgt daher regelmäßig auch mit der Begründung, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern (auch die IHK Darmstadt befleißigt sich diese Argumentation in gebetsmühlenartiger Form). Tatsächlich zeigen zahlreiche Untersuchungen seit den 1980er Jahren, dass der Infrastrukturausbau in wirtschaftlich weit entwickelten Ländern, die bereits über ein leistungsfähiges Infrastrukturnetz verfügen, keine oder nur geringe und uneinheitliche Effekte auf die regionale Entwicklung hat. So lassen sich Betriebsneuansiedlungen oder –erweiterungen ebenso wie Stilllegungen und Abwanderung beobachten. Ähnliche Erfahrungen wurden bei der Erschließung der neuen Bundesländer gemacht. In einer differenzierten Analyse am Beispiel Thüringens konnten die Autoren herausarbeiten, dass die Nähe zu Verdichtungsräumen für die Wirtschaftsentwicklung wesentlich wichtiger als eine Autobahnerschließung ist und kommen zu dem Schluss, dass Autobahnen weder notwendig noch hinreichend für eine positive regionalwirtschaftliche Entwicklung sind (vgl. UBA 2005, Seite 52f).
Trotzdem hat die Personen- wie die Güterverkehrsleistung in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Teilweise korrespondiert diese Zunahme mit dem Anstieg des BIP, wobei die Verkehrsleistung deutlich stärker gestiegen ist als die Wirtschaftsleistung, obwohl die Wirtschaftsleistung in weiterhin zunehmendem Maße im weniger transportintensiven Dienstleistungssektor erbracht wird. Tatsächlich ist das Gewicht der transportierten Güter bzw. die Zahl der Personenwege in der Vergangenheit nur moderat oder garnicht gestiegen – wohingegen die Transportweite deutlich zugenommen hat. Begründet wird dies im Güterbereich insbesondere mit der fortschreitenden Diversifizierung der Wirtschaft und zunehmenden Handelsverflechtungen weltweit und insbesondere im geöffneten EU-Binnenmarkt. Voraussetzung für diese Zunahme des Transportes ist für die Wirtschaftsunternehmen jedoch, dass die Summe der Kosten für Transport, Logistikprozesse, Kapitalbindung, weitere Standorte, etc. günstiger ist, als die Einsparung (im Wesentlichen durch Arbeitskosten) an einem integrierten (Alt-)Standort. Vor dem Hintergrund, dass der Straßengüterverkehr im Jahr 2005 je 1000 Tonnenkilometer 38,9 Euro bzw. insgesamt rund 15,8 Mrd. Euro externalisiert hat (vgl. infras 2007), wird deutlich, dass die subjektiven Wirtschaftlichkeitsrechnungen der Unternehmen dabei heute erheblichen Verzerrungen zuungunsten der Allgemeinheit unterliegen.
Nachfrage durch Angebot – Induzierter Verkehr
Zusammen mit der deutlichen Beschleunigung des Verkehrs, im Wesentlichen durch den anhaltenden Infrastrukturausbau, hat der „Raumwiderstand“ für Transporte in den vergangenen Jahren kontinuierlich abgenommen – und als logische Konsequenz daraus die Transportleistung deutlich zugenommen. An dieser Stelle beißt sich letztlich die Katze in den Schwanz, indem der kontinuierliche Infrastrukturausbau auf Basis einer im luftleeren Raum prognostizierte Verkehrszunahme (wir erinnern in diesem Zusammenhang an die der BVWP-Prognose zugrunde liegende Annahme, dass die prognostizierte Verkehrszunahme abgewickelt werden kann) diese Verkehrszunahme überhaupt erst ermöglicht. Anders ausgedrückt bedeutet dies: Die Verkehrszunahme würde ohne den Infrastrukturausbau in vielen Fällen überhaupt nicht stattfinden – die Prognose bewahrheitet sich selber.
Konkret beschrieben wird dieses Phänomen unter dem Begriff induzierter Verkehr, welcher bei Zunahme der Verkehrsleistung im Personenverkehr ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt. Gemeint ist damit insbesondere die Veränderung der Fahrtweite und die Durchführung zusätzlicher Fahrten, weil entfernter liegende Ziele nun einfacher erreicht werden können (sog. primär induzierter Verkehr). Auch die Verlagerung von Wegen von umweltfreundlicheren Verkehrsmitteln (Fahrrad, Fuß) zum PKW oder auf den ÖPNV sind hier zu berücksichtigen. Dabei steigt zwar die Verkehrsleistung, nicht notwendigerweise jedoch die Mobilität (siehe Beispiel des Bananenkaufs oben, wenn der kleine Laden um die Ecke schließen muss).
Langfristig bedeutender jedoch sind die sog. sekundär induzierten Verkehre. Dabei wird die Standortwahl des Wohnortes oder eines Unternehmens von der Verkehrsinfrastruktur geleitet. Vereinfachend auf das Beispiel Nordostumgehung bezogen könnte man als Beispiel verwenden, dass ein Arbeiter bei Merck durch die Nordostumgehung seinen Wohnort anstelle in Roßdorf in Groß-Zimmern wählt (bei im Vergleich zum Nullfall fast unveränderter Reisezeit) und dadurch einen deutlich weiteren Weg zur Arbeit hat.
Bedeutung des induzierten Verkehrs
Welche Umfang der induzierte Verkehr insgesamt annimmt, zeigen aktuelle Forschungen. Der primär induzierte Verkehr wird in der Literatur mit Werten zwischen 10% und 50% angegeben (Litman 2005, p. 8). Dies berücksichtigt auch der BVWP erstmal im Jahr 2003, indem der Nutzen der Maßnahmen um durchschnittlich 10% reduziert wird. Der sekundär induzierte Verkehr, dem in der Literatur ein Gewicht zwischen 50% und 100% eingeräumt wird (ebenda), wird im BVWP hingegen nicht berücksichtigt: „Da die sekundär induzierten Verkehrsanteile in ihrer Wirkung stark von der zugrunde liegenden Netzstruktur abhängen, erfordert deren Quantifizierung und Evaluierung eine ausführliche modellgestützte Betrachtung. Zuschlagsfaktoren werden daher im Folgenden nur für die primär induzierten Verkehrsanteile und deren Wirkung ermittelt“ (BMVBW 1999, S. 9). Bitte bewerten Sie selbst, ob Sie dieses Vorgehen als angemessen betrachten.
Zusammenfassend kann grundsätzlich damit gerechnet werden, dass die durch eine neue Verkehrsinfrastruktur zusätzlich geschaffene Kapazität nach spätestens 10 Jahren vollständig durch induzierte Verkehre aufgezehrt werden. Dies betrifft auch die Kapazitäten, die zunächst durch eine Verlagerungswirkung (z.B. durch Verkehrsverlagerungen von einer Ortsdurchfahrt auf eine neue Umgehungsstraße) auf einer schon bestehenden Infrastruktur frei werden.
Investitionsentscheidung des Bundesverkehrswegeplans
Der BVWP weist jedoch nicht nur gravierende methodische Mängel in Prognose und Bewertung auf, noch absurder ist die Entscheidungsfindung für die Aufnahme von Projekten in den sog. vordringlichen Bedarf, für den überhaupt eine Finanzierung möglich ist. Bei einer Durchsicht der Projekte stellt man fest, dass es sich dabei nicht etwa um eine gezielte Engpassbeseitigung handelt, sondern um eine lange Liste mit bunt zusammengewürfelten Projekten, von denen viele mit einem Bundesfernstraßennetz herzlich wenig zu tun haben (siehe auch Nordostumgehung, die bestenfalls eine regionale Verbindungsstraße ist).
Dieser unglückliche Zustand entsteht, da auf Basis der Prognose des BWVP zwar der Investitionsbedarf ermittelt wird, dieser jedoch nicht zielgerichtet an den zuvor ermittelten „Schwachstellen“ eingesetzt wird (die ggf. räumlich sehr ungleich verteilt sein können) sondern das zur Verfügung stehende Investitionsvolumen „gleichmäßig“ auf die Bundesländer verteilt wird. Die Länd sind zudem für die Planung und Anmeldung der Verkehrsprojekte verantwortlich, wobei als abschließendes Kriterium für die Aufnahme in den BVWP ohnehin nur der ausgesprochen fragwürdige Nutzen-Kosten-Faktor (siehe dazu Exkurs Mobilität) herangezogen wird. Die Länder wiederum setzen eigene Prioritäten, die nicht notwendigerweise mit denen des Bundes (sofern man die „Engpassbeseitigung“ auf Basis der BVWP-Prognose als originäres Bundesinteresse unterstellt) übereinstimmen müssen. Andererseits wäre auch die Anwendung dieses Kriteriums nicht wirklich stichhaltig, da auf Basis der Prognosen auf Basis von unendlichen Verkehrswegen nahezu das vollständige Netz als Engpass gelten kann.
Hinzu kommen die Wünsche der lokalen Provinzfürsten, die von dem großen Investitionskuchen auch einen Teil in Form einer Ortsumfahrung in eben ihrem Ort zu binden suchen. Der seit Anfang der 1970er Jahre (1. Fernstraßenausbauänderungsgesetz, 1. FStrAbÄndG) immer gleiche Effekt aus diesem Vorgehen ist, dass auf der einen Seite völlig unsinnige Projekte gebaut werden, während an anderer Stelle in Ermangelung einer entsprechenden Finanzierung wirklich sinnvolle Projekte nicht realisiert werden können, nur weil in dem einen Bundesland noch Mittel vorhanden sind und in einem anderen eben nicht, und im Generellen dort am ehesten gebaut wird, wo nur am lautesten und mit dem meisten Nachdruck dafür „geworben“ wird. Auch hier überlassen wir Ihnen die Bewertung, ob es sich dabei um ein sinnvolles Verfahren und den verantwortungsbewusten Umgang mit öffentlichen Mitteln handelt.
Quellen und Verweise:
• RWTÜV 2005, RWTÜV Fahrzeug GmbH „Ermittlung von Geräuschemissionen von Kfz im Straßenverkehr“, http://www.umweltdaten.de/publikationen/fpdf-l/2952.pdf
• BSTMUGV 2003, Bayrisches Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz, „Luftreinhaltepläne in Bayern (Vollzug §47 BimSchG)“, http://www.bestellen.bayern.de/application/stmugv_app000004?SID=1672901409&ACTIONxSETVAL(artdtl.htm,AARTxNR:lfu_luft_00098,USERxARTIKEL:artlist1.htm)=X
• HLUG, Hessisches Landesamt für Umwelt und Geologie, http://www.hlug.de/medien/luft/komponenten/stickoxide/stickoxide.htm
• BMVBW 2001, BVU+ifo+ITP+PLANCO im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, „Verkehrsprognose 2015 für den Bundesverkehrswegeplan“, Download unter: http://www.bmvbs.de/Verkehr/Integrierte-Verkehrspolitik-,1411/Verkehrsprognose-2015.htm
• BMVBW 2005, Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, „Nachhaltige Raum- und Verkehrsplanung – Beispiele und Handlungsmepfehlungen“, Heftreihe Direkt
• UBA 2005, Umweltbundesamt, „Determinanten der Verkehrsentstehung“, ISSN 0722-186X, Download unter: www.umweltbundesamt.de
• infras 2007, infras, „Externe Kosten des Verkehrs in Deutschland – Aufdatierung 2005“
• Quellenangaben BMVBW 1999 und Litman 2005 ungeprüft aus Vorlesungsunterlagen „Verkehrsökologie“ 2007/08, TU Dresden, Lehrstuhl für Verkehrsökologie, Prof. Dr. Udo Becker, übernommen.