IVDA: Satzungsbeschluss zur Nordostumgehung aussetzen
Wirkungen fraglich, Alternativen ungeprüft
„Mit dem Satzungsbeschluss zur Nordostumgehung sollen die Stadtverordneten demnächst Fakten für ein Projekt schaffen, von dem weder bekannt ist, ob die damit angestrebten Ziele überhaupt erreicht werden, noch ob es nicht eine wirkungsvollere und/oder kostengünstigere Alternative gibt. Wir fordern daher die Stadtverordneten auf, den Satzungsbeschluss bis zur Klärung dieser Fragen auszusetzen.“ fassen Stefan Opitz und Felix Weidner vom Vorstand des Vereins für Innovative Verkehrssysteme Darmstadt e.V. (IVDA) den Inhalt eines offenen Briefes an die Darmstädter Stadtverordneten und den Magistrat zusammen. Ziel sei es, damit auf gravierende Mängel in der Planung aufmerksam zu machen. „Auf der derzeitigen Grundlage gleicht der Satzungsbeschluss zur Nordostumgehung einem Kopfsprung in trübe unbekannte Gewässer.“ so Opitz und Weidner unisono. Für den Fall, dass die Stadtverordneten dem Projekt doch das Placet erteilen, kündigt der Verein seinen Rückzug aus dem Planungsbeirat an, da damit die Grundlage für die Arbeit des Beirates entzogen sei.
In das Zentrum seiner Kritik stellt der IVDA die stark lückenhafte Analyse und Bewertung der verkehrlichen Auswirkungen der geplanten Straße auf die Stadt. „Obwohl in den Prognosen langfristig durch die Straße neu erzeugter Verkehr noch nicht mal berücksichtigt wird, weisen die Prognosen trotzdem eine Verkehrszunahme im Bereich der Nordostumgehung von über 60% aus. Entgegen der Zielsetzung der Stadt verändert sich der Verkehr in der restlichen Stadt dagegen eigentlich gar nicht. Ausschließlich Spessart- und Röhnring werden von einer deutlich Verkehrsreduktion profitieren.“ fassen Opitz und Weidner die Ergebnisse der Verkehrsprognose zusammen. Nicht berücksichtigt seien zudem bisher die Auswirkungen auf andere Verkehrsarten wie Zufußgehen, Radfahren und den ÖPNV. „Hier erwarten wir in der gesamten Stadt empfindliche Einbußen zugunsten von mehr Autoverkehr, da der Autoverkehr in erheblichem Umfang an Attraktivität gewinnt. Besonders bei Bussen und Bahnen wird die Stadt dies auch unmittelbar an einem steigenden Zuschussbedarf wegen sinkender Fahrgeldeinnahmen spüren.“ prognostizieren Opitz und Weidner. „Ausgleichende Maßnahmen sind in weiten Teilen nicht geplant oder es steht in den Sternen, ob sie jemals realisiert werden. Der Ortsumbau in Arheilgen zeigt mit einem zeitlichen Abstand von 11 Jahren zur Eröffnung der Umgehungsstraße, mit welchen zeitlichen Dimensionen hier zu rechnen ist.“
Einzig die Reduzierung des Lkw-Verkehrs in der Innenstadt hält der IVDA für realistisch. Weidner: „Dabei werden sowohl von der Politik wie auch in der Öffentlichkeit vielfach Ziele und Maßnahmen verwechselt. Die Reduktion des Lkw-Verkehrs ist bestenfalls das Mittel, um insbesondere Schadstoffausstoß, Lärm und Trennwirkung in der Innenstadt zu reduzieren. Als Ziel für sich ist es jedoch unsinnig.“ Gleichzeitig warnt der IVDA vor übertriebenen Erwartungen in die Wirkung der Nordostumgehung. „Auch nach Inbetriebnahme der Nordostumgehung wird es ein erhebliches Schwerverkehrsaufkommen in der Innenstadt geben. Und da durch längere Fahrstrecken und zusätzlichen (Schwer-)Verkehr auf der Umfahrung die Schadstoffemissionen im Stadtgebiet insgesamt steigen werden, wird es die erhoffte Entlastung zumindest bei Schadstoffen letztendlich nicht geben.“ urteilt Weidner.
Der IVDA halte es jedoch für möglich, die erwünschten Effekte in allen Bereich auch ohne die Nordostumgehung und das auch kurzfristig zu erzielen. „Kern des Problems ist nicht der Verkehr an sich, sondern seine Verträglichkeit mit anderen Nutzungen. In der Vergangenheit wurde dem Verkehr im Vergleich zu anderen Nutzungen in der Stadt eine zu hohe Priorität z. B. im Vergleich zu Wohn- und Aufenthaltsqualität eingeräumt.“ so Weidner. Dies bedeute aber nicht, dass dieser Zustand für immer so erhalten werden oder noch verschlimmert werden müsse. Weidner: „Von entscheidender Bedeutung für die Stadtverträglichkeit ist die Geschwindigkeit des Verkehrs. So lassen sich beispielweise die Lärmemissionen allein durch eine Geschwindigkeitsreduktion von 50 auf 30km/h um rund 5dB(A) senken, was für die Betroffenen annährend einer empfundenen Halbierung des Lärms entspricht. Um den gleichen Effekt durch die Nordostumgehung zu erzielen, müsste insbesondere der Schwerverkehr in der Innenstadt um rund 70% reduziert werden – was angesichts der Prognosen unrealistisch ist.“ Bei Schadstoffemissionen sei die Lage ähnlich. „Bei Tempo 30 liegen die Emissionen fast aller Schadstoffe drastisch unter den Werten bei 50km/h. Bei Feinstaub kann eine Reduktion von bis zu 70% erreicht werden. Und auch bei NOx, dessen ab 2010 verbindlich einzuhaltende Grenzwerte in den vergangenen Jahren in der Hügelstraße relativ konstant mit rund 175% drastisch überschritten wurden, kann der Schadstoffausstoß um rund 30% gesenkt werden.“ so Weidner. Auch eine Verminderung der Trennwirkung, eine bessere Verträglichkeit mit anderen Verkehrsarten, insbesondere des Radverkehrs, und eine Reduzierung von Unfallgefahr und Unfallschwere sind laut IVDA unmittelbar mit einer Geschwindigkeitsreduktion zu erreichen. Ein weiterer Vorteil sei überdies, dass die positiven Effekte nicht auf die Ost-West-Achse durch die Stadt beschränkt bleiben müssten, sondern flächendeckend in der Stadt erreichbar seien.
Als flankierende Maßnahmen für eine Geschwindigkeitsreduktion im Hauptstraßennetz schlägt der IVDA darüber hinaus eine Reihe weiterer Maßnahmen vor. „Darmstadt zeigt sich leider immer wieder völlig innovationsresistent, selbst wenn es um Konzepte geht, die an anderer Stelle längst ihre Wirkung und ihren Nutzen bewiesen haben. Dabei handelt es sich vielfach um Maßnahmen, die entweder fast kostenfrei umgesetzt werden können oder die zumindest einen erheblichen Deckungsbeitrag zurückliefern.“ fasst Opitz die bisherige Entwicklung zusammen. „Stattdessen soll jetzt in einer Hau-Ruck-Aktion das Tafelsilber der Stadt verscherbelt werden, um am Ende wahrscheinlich mit leeren Händen dazustehen.“ so Opitz weiter.
Ebenso wie die Geschwindigkeitsreduktion sei bisher jedoch auch keine sonstigen Alternativen von der Stadt Darmstadt ernsthaft in Erwägung gezogen oder etwa einer vertiefenden und quantifizierenden Betrachtung unterzogen worden. Der IVDA sieht daher die nötige Grundlage für einen Beschluss zur Nordostumgehung derzeit nicht gegeben. „Wir fordern den Satzungsbeschluss zur Nordostumgehung auszusetzen, bis der Nachweis erbracht ist, dass die intendierten Ziele entweder ausschließlich oder (unter Einbeziehung aller negativen Begleiterscheinungen) tatsächlich am volkswirtschaftlich kostengünstigsten durch den Bau der Nordostumgehung erreicht werden können. Angesichts der enormen Investitionssumme nicht nur für die Stadt Darmstadt und der gravierenden Begleiterscheinungen der geplanten Straße ist dies in unseren Augen die absolute Mindestanforderung, bevor auch nur ansatzweise qualifiziert über das Projekt entschieden werden kann.“ so Weidner und Opitz abschließend.